Diskussion

Zwei kleine Anmerkungen zum Manifest zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen von Heinz Cornel Oktober 2019

Grundsätzlich drückt das Manifest das aus, wofür ich seit 40 Jahren stehe und für das ich mich in vielen Dutzenden Publikationen und Projekten gezielt und einzeln eingesetzt habe. Ich begrüße deshalb die Initiative sehr und habe sie zur Unterstützung gerne unterzeichnet. Gleichwohl will ich zweierlei anmerken – nicht um den Inhalt des Manifests einzuschränken, sondern um den Diskurs darüber seriös zu befördern:

1. Kann man wirklich behaupten, dass der bundesdeutsche Strafvollzug heute Gefangene als „wertlose Wesen“ behandelt? An der grundsätzlichen Kritik am Strafvollzug, an der Vollstreckung von Freiheitsstrafen und an vielen demütigenden Situationen einer totalen Institution ist nichts zurückzunehmen. Auch wird es immer wieder Situationen geben, in denen sich Gefangene als wertlose Wesen fühlen und ohnmächtig sind. Gleichwohl sehen heute Gefängnisse nicht mehr so aus, wie vor 150 oder 50 Jahren. Daran haben im demokratischen Rechtsstaat politische Initiativen und Mitarbeitende im Vollzug, das Bundesverfassungsgericht, Regierungen und Justizverwaltungen sowie  StrafverteidigerInnen und Alternative Kommentare zum Strafvollzugsgesetz mitgewirkt. Nicht zuletzt  haben die Rechtsbehelfe aus dem vierzehnten Titel des Bundestrafvollzugsgesetzes die Position der Gefangenen verbessert. Es bleibt noch sehr viel zu tun, aber man muss auch in der Rhetorik nicht bisherige kriminalpolitische Erfolge ignorieren. Die Abschaffung der Freiheitsstrafe ist auch auf der Basis einer nüchterneren Diagnose geboten.

2. Ich bin entschieden und uneingeschränkt für die Abschaffung der Freiheitsstrafe, aber ob wir – selbst wenn wir es heute politisch durchsetzen könnten – sofort jede Form des Freiheitsentzugs abschaffen könnten, da wäre ich etwas vorsichtiger. Es gibt Lebensgeschichten und biografische Erfahrungen, die Menschen zu Handlungen bringen, die dem Rechtsfrieden und dem Schutz von Rechtsgütern nicht entsprechen. Wir können das nicht prognostizieren und deshalb sollte man da mehr als vorsichtig sein – aber dass eine Gesellschaft heute vorheriges Handeln völlig ignorieren kann, das möchte ich vorsichtig bezweifeln. Der allerletzte Satz des Manifests ist mir deshalb angesichts dieser hochkomplexen Debatte um Opfer- und Rechtsgüterschutz  und der notwendigen Differenzierung etwas dürftig „Um den Bedürfnissen von Opfern sowie Täterinnen und Tätern besser als bisher Rechnung zu tragen, sind Gefängnisse nicht erforderlich.“ Da möchte man schon ein wenig mehr Empirie sehen oder wenigstens plausible Argumente. Man kann das natürlich umgehen, indem man andere Institutionen dann nicht mehr Gefängnisse nennt – aber so wollen wir den abolitionistischen Diskurs gerade nicht führen. Es bleibt für mich der Grundsatz, dass nicht die Abschaffung der Gefängnisse sich legitimieren muss, sondern das Gefängnis in seinen vielfältigen Formen. Aber die Postulierung der „Nichterforderlichkeit“ (warum dann eigentlich nur eine „weitergehende Vermeidung von Untersuchungshaft“ und nicht deren vollständige Abschaffung?) selbst wird nicht genügen, sondern ich fürchte, dass dies die politische Forderung, sich auf den Weg der Abolition als Prozess zu begeben entwertet.

Ich wünsche mir eine breite Verbreitung und intensive Diskussion des Manifests und viele schnelle praktische Schritte der Umsetzung im Interesse von Rechtsfrieden, Menschenwürde und Rechtsgüterschutz.

4 Kommentare

  1. Dorothea

    Hallo,

    vor fünf Jahren hätte ich bei dem Thema Gefängnis noch gedacht: was geht’s mich an, die sind doch selber schuld.
    Inzwischen habe ich mithilfe eines guten Bekannten einen Blick hinter die Mauern werfen dürfen.
    Und so manche altvertraute Überzeugung ging über Bord und machte einem Erstaunen und Erschrecken Platz.
    Gefängnisse, so wie sie jetzt sind, bestrafen ja nicht nur den Täter oder die Täterin, sondern auch deren Kinder, Partnerin bzw. Partner, die Eltern und Großeltern, Geschwister und was es an Verwandten und Freunden noch gibt. Die vorhandenen sozialen Netze bekommen ordentlich Löcher. Sind die Langzeitfolgen nach der Entlassung eigentlich erforscht? (nein, ich meine nicht die Rate der Rückfälliggewordenen!)
    Und Gefängnisse verändern die Gefangenen. Je länger die Zeit im Gefängnis dauert, umso unselbständiger können sie werden, krank oder traumatisiert oder mit einem deutlichen Verlust die Welt „draußen“ realistisch wahrzunehmen.
    Strafe soll den Opfern helfen (mal abgesehen davon, ob das so überhaupt geht); es sind viele im Gefängnis, die keine Menschen als Opfer haben, z. B. Schwarzfahrer oder Personen mit Ersatzfreiheitsstrafen, da greift also dieses Argument garnicht!
    Aber eigentlich bewegt mich seither eine andere Frage:
    Als Christ bin ich der Überzeugung: die Sünde ist zu verdammen, aber der Sünder ist anzunehmen.
    Mit anderen Worten: die Tat ist zu bestrafen, dem Täter bzw der Täterin ist mit Respekt zu begegnen.
    Wenn das in einer Gesellschaft umgesetzt werden würde, wie müßte dann Justiz und Strafvollzug sein?
    Wie kann ein würdevoller (Artikel 1 Grundgesetz) und respektvoller Umgang mit straffällig gewordenen Menschen aussehen? Gefängnisse sind dafür m. M. nicht der richtige Ort.

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  2. Sabeth

    Schließe mich den beiden Kommentaren von Klaus Jünschke ausdrücklich an, hinsichtlich seiner wichtigen Anmerkungen zu nach wie vor unverändert bestehenden Missständen (materielle Armut, patriarchale Männlichkeitsbilder und Folgen sowie Ursachen dessen), an deren Ursachenbehebung, konstruktive Bewältigung „man“ – Politik, Gesellschaft – sich noch immer nicht macht. Grund: Menschenbild, Konservatismus, rollback allerorten.

    Das Manifest halte ich selbstredend für gut, richtig, wichtig, erlaube mir dennoch eine kleine Kritik:

    Zum Punkt „Arbeit statt Strafe“: Keinesfalls Arbeit a l s Strafe – keine Zwangsarbeit, kein Paternalismus, sondern Respekt und Bedürfnisorientiertheit. Arbeit ist nicht gleichbedeutend mit kapitalistisch ausbeutbarer Erwerbstätigkeit – auch nicht in vermeintlichem Sinne eines vorgeblichen Gemeinwohls.

    Schwierig außerdem „Therapie statt Strafe“, insbesondere in Psychiatrie, im Maßregelvollzug.

    https://www.swr.de/swr2/wissen/Kriminalitaet-Psychiatrie-hinter-Gittern-Wirken-Therapien-fuer-Straftaeter,swr2-wissen-2019-11-06-100.html?fbclid=IwAR24T2H2sWhLK1A2qyT5srm-YYW6AvETi9YYSzSkWuj-FZtAbIhqBtMc460

    Leider wird die dringend erforderliche, angemessene Prävention in insbesondere der Kindheit und Jugend von Menschen, durch entsprechende Sozialpolitik, Familienpolitik, Information, Aufklärung, Beheben von Armut …, im Manifest nicht einmal erwähnt.

    Befasse mich auch schon seit einiger Zeit mit der Thematik – Strafe, Rache/Vergeltung, Gewalt, Unterwerfung, Kontrolle, Ausbeutung, Kompensation (-sverhalten), Wiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich, Schuld, Verantwortung, Verzeihen, Versöhnen, Täterschaft, Opfersein (Opferstatus, Opferrolle …), das Verhältnis zwischen Täter und Opfer, Mitgefühl, Ersatzfreiheitsstrafen/Armutsstrafen, Prävention – insbesondere in Kindheit und Jugend, erforderlichen politischen, gesellschaftlichen, sozialen Verhältnissen (siehe auch Arbeiten, Wohnen, Kinderbetreuung, Fremdbetreuung, Bindung, Beziehung, Sorge-Arbeit, Elternschaft …).

    http://kallisti-dichtet-belichtet.over-blog.com/2017/11/uber-strafe-das-strafen-straftater-das-tater-opfer-verhaltnis-reue-wiedergutmachung.html

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  3. Klaus Jünschke

    Köln ohne Zellengefängnis – eine Aufforderung zur Diskussion

    New York will die Gefängnisinsel Rikers Island schließen. Seit Wochen gibt es darüber Berichte in deutschen Zeitungen mit so schönen Zitaten wie von Bürgermeister Bill de Blasio: „Das Zeitalter der Masseninhaftierung ist vorbei“. In den 90er Jahren waren 20.000 Gefangene auf der Insel, jetzt sind es noch 8.000. In Zukunft sollen es nur noch 3.300 sein – in vier verschiedenen über die Stadt verteilten kleinen Gefängnissen. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-10/us-gefaengnis-insel-new-york-rikers-island-schliessung

    In Köln begann die moderne Gefängnisgeschichte 1838 mit der Eröffnung des Arrest- und Korrektionshauses am Klingelpütz. https://www.kuladig.de/Objektansicht/KLD-247187 Köln lag damals in der Preussischen Rheinprovinz. Die Bewohner waren damit einem König Untertan. 1871 wurde oberster Herrscher ein Kaiser. Nach dem 1. Weltkrieg kam die bis 1933 dauernde Weimarer Republik, auf die 12 Jahre Naziherrschaft folgten. Ab 1949 waren die Insassen des Klingelpütz wieder Bürger einer Demokratie. Eine gesetzliche Grundlage für den Strafvollzug gab es allerdings erst ab 1977, als das Strafvollzugsgesetz in Kraft trat.

    Von 1938 bis 1968 diente das Gefängnis in Köln folglich fünf verschiedenen Staatsformen. Aber egal ob Feudalstaat, Demokratie oder Nazistaat – die verschiedenen Generationen von Gefangenen saßen immer in denselben Zellen – auf acht Quadratmetern.

    Als 1968 der alte Klingelpütz abgerissen wurde, kamen die Gefangenen in den Neubau nach Ossendorf, der nach vierjähriger Bauzeit fertig war. http://www.jva-koeln.nrw.de/ Die Zellen maßen jetzt immer noch nur zwei mal vier Meter. Immerhin: die vergitterten Fenster waren größer und tiefer gelegt, es gab Heizung, Wasserklosett und elektrisches Licht. Aber der Raum hatte immer noch innen keine Klinke und konnte nur von außen geöffnet werden. Wie zu den Zeiten, als die Gefangenen Untertanen waren.

    Noch bevor der 50.Geburtstag des nun JVA Köln genannten Gefängnisses erreicht war, wurde erneut ein Neubau
    beschlossen, so marode war dieser aus Beton gefertigte Knast geworden. Die Leitung der JVA hatte für 2020 mit dem Beginn der Bauarbeiten gerechnet, aber der wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
    https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/neubau-der-jva-ossendorf-verzoegert-sich-100.html
    Vielleicht gelingt es in dieser geschenkten Zeit eine Alternative zu dem geplanten neuen Zellengefängnis zu erarbeiten und politisch durchzusetzen. Es darf nicht wahr sein, dass die Kritik an der Käfighaltung von Hühnern weiter ist, als die Diskussion um die Unterbringung von Gefangenen.

    Während in der Kindergarten- und Schulpädagogik längst selbstverständlich ist, den Raum als dritten Lehrer, zu verstehen und Räume kind- und jugendgerecht zu gestalten, kommt die Zelle als entsprechender Raum in den Diskussionen um den Behandlungsvollzug nicht vor. Für die Gefangenen ist die Zelle ein Raum, in dem Ohnmacht erfahren wird, oft Platzangst, Wut und Verzweiflung. In der kriminologischen Gewaltforschung gelten asymmetrisch Sozialbeziehungen als die wichtigsten Generatoren von Gewalt. Die durch die Zelle hergestellte asymmetrische Sozialbeziehung wird dagegen einfach ignoriert und so getan, als könnten auf dieser Basis therapeutische Beziehungen hergestellt werden.

    Als 2006 Hermann Heibach in einer Gemeinschaftszelle der JVA Siegburg zu Tode gefoltert wurde, hat die damalige Justizministerin von NRW , Roswitha Piepenkötter, allen Gefangenen Einzelzellen als Schutz vor Übergriffen versprochen. Dass auch die Einzelzelle ein Übergriff ist, kam ihr nicht in den Sinn. Damit im Jugendstrafvollzug alle eine Einzelzelle haben können, wurde in Wuppertal-Rondorf ein neues Jugendgefängnis mit über 500 Zellen gebaut und die JVA Heinsberg wurde auf über 500 Plätze aufgestockt. Jugendliche Gefangene reagierten fassungslos: Wie kann man nur die Idee haben so viele von uns in einem Gefängnis zusammenzufassen?“ Sie wissen, dass es in diese großen Knästen zwangsläufig zu Subkulturen kommt, in denen das Recht des Stärkeren regiert.

    Der Gesetzgeber hat mit dem Strafvollzugsgesetz von 1977 in seinem § 3 den Weg zu den Alternativen zum geschlossenen Zellengefängnis schon frei gemacht:
    „§ 3 Gestaltung des Vollzuges
    (1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.
    (2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken.
    (3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.“

    In § 3.1, dem Angleichungsgrundsatz, wird auf die allgemeinen Lebensverhältnisse Bezug genommen. Da es in keiner normalen Wohnung Zellen gibt, sollte es auch hinter den Gefängnismauern keine geben. Bei einem beachtlichen Teil ist das schon der Fall. Die 36 Gefängnisse in NRW haben und 18.500 Haftplätze, sind 17.500 Plätze im Männervollzug, rund 1.050 Plätze im Frauenvollzug. 23% aller Haftplätze sind im offenen Vollzug, das sind in Zahlen 4.300. Deutlich über Bundesdurchschnitt. https://www.justiz.nrw.de/Gerichte_Behoerden/zahlen_fakten/statistiken/justizvollzug/index.php

    Gerade weil im §3.2, dem Gegenwirkungsgrundsatz, davon ausgegangen wird, dass der Freiheitsentzug schädliche Folgen hat, und im § 3.3., dem Eingliederungsgrundsatz, hervorgehoben wird, dass der Vollzug so auszurichten ist, dass er unterstützt „sich in das Leben in Freiheit einzugliedern“, sollte der offene Vollzug, die Unterbringung in Zimmern, Regelvollzug sein.

    Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Zellengefängnisse ist die aktuelle Diskussion um die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen. Rund 13% aller Gefangenen sitzen nur, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können oder wollen.
    https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-02/justizvollzug-geldstrafe-gefaengnis-kosten-ersatz

    Ein noch größerer Schritt beim Abbau von Haftplätzen ist die Forderung nach einer an Leidverminderung orientierten Drogenpolitik. Angesichts der vielen süchtigen Gefangenen hat Jörn Foegen, zu seiner Zeit als Leiter der JVA Köln laut gefragt „Bin ich Gefängnisdirektor oder bin Klinikdirektor?“ Und er erklärte, dass er ein Drittel aller Zellen dicht machen könnte, wenn es eine an Leidverminderung orientierte Drogenpolitik geben würde.

    Der Vergleich mit den skandinavischen Ländern, in denen der Sozialabbau nicht so weit gegangen ist, wie in Deutschland und wo die soziale Ungleichheit deutlich geringer ist, verweist darauf, dass eine effektive Bekämpfung der Armut Straftaten verhindert und Gefängnisstrafen sinken lässt.

    Überhaupt nicht thematisiert wird in diesem Zusammenhang die Überwindung der Geschlechterungleichheit im Strafvollzug: da 95 % aller Zellen männlich besetzt sind und der Frauenanteil hinter Gittern nur 5 % ausmacht, wäre zu fragen, was geschehen muss, dass auch der Männeranteil auf 5 % absinkt. In der Gleichberechtigungsdebatte wird immer die Spitze der sozialen Hierarchie thematisiert und beklagt, dass Frauen nur mit 5% in den Aufsichtsräten und Vorständen von Banken und Konzernen vertreten sind. Im Gefängnis hätte die Gleichberechtigungsforderung andere Antworten zu finden: welche Rolle spielen Delikte bei der Bewerkstelligung von Männlichkeit?

    Die wenigen, die nicht frei herumlaufen sollten, solange sie für andere eine Gefahr für Leib und Leben sind, sollten hinter den Mauern in Zimmern wohnen, damit sie die Chance haben, sich so frei wie möglich, mit ihren Taten und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
    7.11.2019
    Klaus Jünschke

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  4. Klaus Jünschke

    Für eine Welt ohne Gefängnisse
    Zur Eröffnung der Aktionstage Gefängnis bin ich am 1.11. im Museum des Kapitalismus in Berlin. https://museumdeskapitalismus.de/. Ein Zufall? Mit dem aufkommenden Kapitalismus entstanden in Europa im 16. Jahrhundert die ersten Vorläufer moderner Gefängnisse in Form von Arbeitshäusern und Zuchthäusern. Die Insassen waren vor allem Bettler und Landstreicher, also soziale Randgruppen, weniger Straftäter. Jetzt sind Roboter dabei immer mehr Arbeiten zu übernehmen. Eine gute Zeit für die Abschaffung der Gefängnisse und des Kapitalismus?
    Bei der Eröffnung der Aktionstage geht es zunächst mal um die Gesundheit der Gefangenen.
    https://www.aktionstage-gefaengnis.de/wp-content/uploads/2019/10/Aufrufflyer-Aktionstage-2019.pdf
    Da wegen der Wahl in Thüringen wieder viel von der AfD die Rede ist, sei daran erinnert, dass neben Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Militarismus und Nationalismus „Law-and-order“ ein Kernelement des alten und neuen Faschismus ist. Die Auseinandersetzungen für Alternativen zu repressiven Konfliktregelungen durch Polizei, Gerichte und Gefängnis haben eine beabsichtigte Nebenwirkung: sie können dazu beitragen den Neofaschismus zu schwächen.
    Das beigefügte Manifest zur Abschaffung von Strafanstalten ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie der Desorientierung durch die tägliche Kriminalberichterstattung begegnet werden kann. Zu ergänzen sind die unter Punkt „5. Alternativen für den Umgang mit ‚Kriminalität‘ sind vorhanden“ aufgelisteten sozialpädagogischen Empfehlungen für den Umgang mit Tätern und Opfer. Es fehlen Forderungen zur Verbesserung ihrer Lage. Immerhin wird seit über 100 Jahre Franz von Liszt zitiert: „Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik.“
    In den Gefängnissen sind arme Männer extrem überrepräsentiert, viele mit schlimmen Gewalterfahrungen in der Kindheit, jeder zweite mit Suchtproblemen, häufig ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung sowie Angehörige ethnischer Minderheiten und Flüchtlinge und Migranten. Es liegt auf der Hand welche sozialen und politischen Forderungen notwendig sind, um diese Überrepräsentationen abzubauen.

    Strafgesetze, Polizei, Gerichte und das Gefängnisse stehen für die Transformation sozialer Konflikte in Probleme der Überwachung und Kontrolle im Dienste einer patriarchalen kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Wie sind diese „Ordnungshüter“ für eine Veränderung zu gewinnen? Im Rahmen der kapitalistischen Welt zeigen die Verhältnisse in den Ländern, wo vom Wohlfahrstaat noch die Rede sein kann, dass sie mit viel weniger Gefängnis auskommen, als allen anderen. Besonders verheerend ist die Situation in den USA, die die höchste Inhaftierungsrate in der Welt haben. Ursache dort war der Umschwung von der Bekämpfung der Armut zur Bekämpfung der Armen.
    2005 habe ich mit Bettina Paul eine Studienwoche an der Universität Hamburg geleitet, in der das Thema die Entkriminalisierung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus war. In der Dokumentation der Studienwoche haben wir uns mit der Kriminalisierung von Migrantinnen und Migranten auseinandergesetzt. In meiner im Aufbau befindlichen neuen Homepage habe ich diesen Text eingestellt. Er endet so: „Die Entscheidung in den USA, die Armen als Gegenstück zum Sozialabbau zu kriminalisieren, hat dazu geführt, dass sich innerhalb von zwei Jahrzehnten die Zahl der Gefängnisinsassen vervielfachte. Angesichts dieser Entwicklung sieht Wacquant Europa vor einer historischen Entscheidung gestellt: ‚Wegschluss der Armen und polizeiliche und strafrechtliche Kontrolle der von den Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt und dem entsprechenden Abbau sozialer Schutzmaßnahmen destabilisierter Bevölkerungsschichten einerseits… offensive Wiederherstellung der sozialen Leistungsfähigkeit des Staates andererseits.‘“ (Wacquant 2000: 149)
    https://klausjuenschke.net/kriminalisierung-von-minderheiten/
    Loic Wacquants Text ist auch schon wieder 20 Jahre alt. Die „offensive Wiederherstellung der sozialen Leistungsfähigkeit des Staates“ kommt in den USA zwar in den Reden von Bernie Sanders vor, in Europa auch hier und da, aber eine wirkliche Kraft, die das schaffen könnte, ist nicht in Sicht. Immerhin gibt es seit einem Jahr eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat:
    Renate Dillmann /Arian Schiffer Nasserie: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. VSA Hamburg
    https://www.socialnet.de/rezensionen/25063.php
    Renate Dillmann und Arian Schiffer Nasserie erklären warum der Sozialstaat nicht die Ursachen der Armut bekämpft, sondern sie nur mehr oder weniger gekonnt verwaltet. Damit wird auch klar, warum „Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik“ folgenlos blieb.
    In der Protestbewegung vor 50 Jahren gab es davon ein Bewusstsein:

    „Aus der Emanzipationsforderung ist der Gleichberechtigungsanspruch geworden. Emanzipation bedeutete Befreiung durch Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Aufhebung der hierarchischen Gesellschaftsstruktur zugunsten einer demokratischen: Aufhebung der Trennung von Kapital und Arbeit durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Beseitigung von Herrschaft und Knechtschaft als Strukturmerkmal der Gesellschaft.
    Der Gleichberechtigungsanspruch stellt die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Ungleichheit zwischen den Menschen nicht mehr in Frage, im Gegenteil, er verlangt nur die konsequente Anwendung der Ungerechtigkeit, Gleichheit in der Ungleichheit: Die Gleichberechtigung der Arbeiterin mit dem Arbeiter, der Angestellten mit dem Angestellten, der Beamtin mit dem Beamten, der Redakteurin mit dem Redakteur, der Abgeordneten mit dem Abgeordneten, der Unternehmerin mit dem Unternehmer. Und tatsächlich beschäftigt dieser Gleichberechtigungsanspruch heute noch jeden gewerkschaftlichen Frauenkongreß und jede Unternehmerinnentagung, weil er sich erst juristisch, nicht aber praktisch durchgesetzt hat. Es scheint, als hätte eine ungerechte Welt noch Schwierigkeiten, wenigstens ihre Ungerechtigkeiten gerecht zu verteilen.“ (Ulrike Meinhof: Falsches Bewusstsein. In: Christa Rotzoll: „Emanzipation und Ehe“. München 1968, S. 33ff.)
    30.10.2019
    Klaus Jünschke

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