Susan Boos: „Auge um Auge – Die Grenzen des präventiven Strafens“
Eine Buchbesprechung über die Sicherungsverwahrung in der Schweiz
von Thomas Meyer-Falk
Die ehemalige Redaktionsleiterin der Schweizer Wochenzeitung WOZ, Susan
Boos, veröffentlichte im vergangenen Jahr ein sehr lesenswertes Buch
über die Schweizer Variante der sogenannten Sicherungsverwahrung (SV und
in der Schweiz bloß „Verwahrung“ genannt).
Boos steigt tief hinab in die Kanalisation des Schweizer Straf- und
Justizsystems, dort wo selten ein Lichtstrahl hingelangt, geht es doch
vielfach um Menschen, die sich in besonders schwerwiegender und
verwerflicher Weise gemeinschaftszerstörend verhalten haben.
So macht uns die Autorin schon auf den ersten der rund 250 Seiten mit
Peter Vogt bekannt, einem seit 25 Jahren verwahrten Insassen, der sein
Recht auf assistierten Suizid durchsetzen möchte: Vogt hat Mädchen und
Frauen gewürgt und vergewaltigt! Auf Seite 13 begegnet uns Beat Meier,
ein pädokrimineller Straftäter, der über ein Vierteljahrhundert
inhaftiert ist. Boos schildert nüchtern und sachlich die jeweiligen
strafrechtlichen Hintergründe, wie auch Ausschnitte der Biografien der
Verwahrten. Sie berichtet, wie sie als Journalistin von Verwahrten
angerufen wurde, ihr Unterlagen zugeschickt wurden und sie sich
zunehmend für diesen Bereich des Strafrechts zu interessieren begann.
Im 3. Kapitel, ab Seite 23, referiert die Autorin ausführlich einen der
wohl spektakulärsten Mordfälle der letzten Jahrzehnte, als nämlich 1993
der schon wegen mehrfachen Mordes an Frauen einsitzende Hauert bei einem
Ausgang aus der Haftanstalt, er war auf dem Weg zu seinem Therapeuten,
eine 20-jährige Pfadfinderführerin entführte, ihr sexualisierte Gewalt
antat und dann ermordete. In Folge diese Verbrechens und einer weiteren
Tat, kam es zu einer Gesetzesinitiative, die schließlich in einem
eigenen Artikel der Bundesverfassung mündete und seitdem die
„lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche
Sexual- und Gewaltstraftäter“ vorschreibt.
Alle Verwahrten, gleich ob sie wegen schwerer oder vielfach auch
wesentlich weniger schweren Taten in die Anstalt gelangt sind, stehen
vor dem gleichen Dilemma: solange ihnen eine ungünstige Sozialprognose
attestiert wird, erfolgt keine Freilassung. Aber selbst wenn es dann mal
Therapeut*innen oder Gutachter*innen gibt, die sich optimistischer
äußern, günstige Veränderungsprozesse diagnostizieren, treffen diese auf
erhebliche Widerstände im Justizsystem. Es wird solange nach
Schwachpunkten gesucht, bis doch eine Fortdauer der Inhaftierung möglich
ist; nicht nur die Untergebrachten resignieren irgendwann, sondern
mitunter auch Beschäftigte, die dann lieber ihren Job kündigen, als
weiter mit dem Strom zu schwimmen. Auch hierüber informiert das Buch
„Auge um Auge“.
Den Gegenpol zu der Perspektive bilden die Gespräche der Journalistin
mit Vertretern des Justizapparates: allen voran mit dem weit über die
Schweizer Grenzen hinaus bekannte Psychiater Frank Urbaniok, ehemals
Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich. Er
kritisiert die Diagnosehörigkeit der forensischen Psychiatrie, wo
verschiedene Psychiater*innen bei Begutachtungen ein und desselben
Falles oftmals zu ganz unterschiedlichen Diagnosen kämen. Diesen stellt
er das aus seiner Sicht wesentlich hilfreichere und sicherere
„forensisch operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluationssystem“ (kurz:
Fortres) gegenüber. Er hat es selbst entwickelt und es basiert auf einer
detaillierten Auswertung der Taten und Akten, umfasst dutzende von
Items, welche unterschiedlich gewichtet werden. Eine Form von
Daten-Fetischismus, um nicht zu sagen Totalitarismus, die auch in der
Fachwelt nicht ohne Widerspruch blieb.
In einem Interview mit dem Berner Strafrechtsprofessor Martino Mora
lotet Boos die Grenzen des „Präventionsstrafrechts“ aus. Was meint
„Präventionsstrafrecht“? Strafen sollen, so die Theorie, begangenes
Unrecht sühnen, sind also repressiv und vergangenheitsbezogen. Mona
macht geltend, dass schon seit Jahrtausenden der Präventionsgedanke
maßgeblich sei für Strafen. Professor Mona fordert einerseits ein
deutliches Vergeltungsstrafrecht, einschließlich der weitestgehenden
Abschaffung der Bewährungsstrafen, andererseits ist er ein lautstarker
Kritiker des vorbeugenden Wegsperrens von Menschen und antwortet auf die
Feststellung, man könne doch nicht alle (aus der Verwahrung) rauslassen:
„Doch, lasst sie raus – nachdem sie ihre verdiente und angemessene
Strafe abgesessen haben!“ Hier dürfte sich Mona vermutlich einig sein
mit der Dortmunder Professorin Dr. Graebsch (von dieser gibt es zur
Deutschen SV einen hörenswerten Vortrag als Podcast auf
https://www.rdl.de/beitrag/wegsperren-und-zwar-f-r-immer), welche
ebenfalls auf die letztlich nicht leistbare zuverlässige
Vorhersagbarkeit künftigen strafbaren Verhaltens und die
menschenrechtlich prekäre Lage von Sicherungsverwahrten hinweist.
Wohin das Präventivrecht führt, konnte man vergangenes Jahr in München
sehen, wo Aktivist*innen der „Letzten Generation“ für Wochen in Haft
verschwanden, um, so die staatliche Erzählung, zu verhindern, dass sie
sich an Straßen ankleben und so den Verkehr behindern.
Die Autorin besuchte im Zuge ihrer Recherchen in Deutschland einen
mittlerweile pensionierten Bewährungshelfer, der zuvor Jahre in
Freiburg (Breisgau) im Strafvollzug tätig war: Peter Asprion. Aktuell
sitzen in der BRD rund 600 Menschen in der SV, darunter zwei Frauen.
Peter Asprion zieht im Gespräch mit Susan Boos ein vernichtendes Fazit
hinsichtlich der SV. Da er ein Gespräch mit einem seiner ehemaligen
Klienten vermittelt, erfahren wir im Anschluss im Kapitel „Herr Roser
lädt ein“ von einem ehemaligen Verwahrten, der 26 Jahre einsaß (davon
22 in der SV), wie er nach seiner Freilassung 2010 für drei Jahre Tag
und Nacht von fünf Polizeibediensteten bewacht wurde, wie sich das
anfühlte und er dennoch -oder trotzdem- es schaffte sich in die
Gesellschaft zu integrieren.
Von Süddeutschland geht es nach Niedersachsen. Dort besucht die Autorin
die Abteilung SV in Rosdorf, spricht mit Personal und Insassen, um
anschliessend nach Berlin weiterzureisen, wo sie mit einem der
bekanntesten forensischen Psychiater, Prof. Dr. Kröber zum Gespräch
verabredet ist; und auch er betont, wie unsicher die scheinbar so
eindeutigen Gefährlichkeitsprognosen sind und man letztlich kaum
zuverlässig einen Rückfall vorhersagen könne, weshalb er dem oben
erwähnten Konzept seines Schweizer Kollegen Urbaniok nicht viel
abgewinnen könne.
Boos führt uns weiter in die Niederlande, in das Psychiatriegefängnis in
Zeeland wo 90 Männer und drei Frauen dauerhaft verwahrt werden und
berichtet wie dort die Bewohnenden untergebracht sind: nachts zwar
weggeschlossen in ihren Zellen, aber tagsüber auf einem von einem
Sicherheitszaun umgebenen Gelände, auf dem sie und auch Besuchende sich
frei bewegen können. Von Zeeland geht es weiter nach Stein in
Österreich. Im Jahr 2020 lebten von 8600 Häftlingen in Österreich über
1.400 in der Verwahrung (hier sei auf das Buch
„Maßnahmenvollzug: Menschenrechte weggesperrt und zwangsbehandelt“,
herausgegeben von Markus Drechsler, erschienen 2016 im österreichischen
Mandelbaum Verlag, hingewiesen, welches sich ausführlich der
spezifischen Situation dort widmet). Wie menschenrechtlich bedenklich
die Unterbringungsbedingungen für Verwahrte in Österreich sind, wird von
ihm sorgfältig herausgearbeitet.
Bei allen Gemeinsamkeiten, insbesondere was die Fragilität der
Sozialprognosen und die immer häufigere Anordnung von Verwahrung
anbetrifft, treten auch die Unterschiede zwischen Schweiz, Österreich,
Niederlande und Deutschland deutlich hervor. Denn wo in Deutschland
manche Angeklagte nach ihrem Urteil in der forensischen Psychiatrie
landen (aktuell sind das rund 6.000 Menschen), endet in anderen Ländern
das Leben in psychiatrischen Abteilungen regulärer Strafanstalten, mit dem
entsprechend strengen Strafvollzugregime. Wo in Deutschland und der
Schweiz Anwält*innen vom Staat bezahlt und den Betroffenen beigeordnet
werden für deren gerichtlichen Prüfverfahren über die Fortdauer der
Verwahrung, müssen die Anwält*innen in Österreich kostenlos arbeiten,
die erhalten keinerlei Vergütung!
Besonders spannend finde ich, wenn langjährige Justizmitarbeitende wie
Thomas Manhart, ehemals Oberstaatsanwalt und „Chef Justizvollzug“, am
Ende ihrer Laufbahn ein im Grunde desaströses Fazit ihrer eigenen Arbeit
ziehen (Seite 111-118), eigentlich für eine Veränderung des Status quo
plädieren, aber augenscheinlich nicht den Mut und die Entschlossenheit
aufbringen, für diese offensiv(er) einzutreten. Letztlich hat er
Jahrzehnte einem System gedient, in dem er Karriere gemacht hat, ohne
darin, nun am Abschluss seiner Laufbahn, einen wirklichen Sinn zu
erkennen. Nicht jeder macht es so wie der langjährige, in Bayern und
Sachsen tätige Gefängnisdirektor Thomas Galli und hängt seinen sicheren
Beamtenjob vor dem Rentenalter an den Nagel, um sich für die Abschaffung
von Gefängnissen auszusprechen.
Wichtig erscheint mir, dass Susan Boos nicht mit Details über die
Vorgeschichte der Protagonisten spart. Es sitzen Menschen in den
Gefängnissen, die oftmals Schreckliches getan haben. Damit vermeidet Boos
jede Form von Sozialromantik. Wie umgehen auch mit diesen Menschen? Denn
Gesellschaften, welche die Todesstrafe abgeschafft haben, müssen sich
fragen lassen, ob ein lebenslanger Ausschluss von Menschen aus der
Gemeinschaft letztlich nichts anderes ist als „eine Todesstrafe auf
Raten“. Und sie müssen sich der Frage stellen, wo dieses immer
exzessivere, ja obsessiv anmutende vorbeugende Wegsperren von Menschen
enden soll!
Im Anhang des Buches finden sich ab S. 224 wichtige
Detailinformationen zu den „beliebtesten (forensischen)
Prognoseinstrumenten“ ebenso wie ein historischer Rückblick in das 19.
Jahrhundert und die „Vordenker der heutigen Verwahrung“. Sehr hilfreich
finde ich selbst die Übersicht der Gesetzestexte ab S. 242, wo die
strafrechtlichen Grundlagen über die Verwahrung in Deutschland, aber
auch Österreich und selbstredend auch der Schweiz, im Wortlaut zitiert
werden.
Susan Boos kommt in ihrem Buch nach 222 Seiten zu dem Resümee, man müsse
ernsthaft über Vergeltung sprechen, anstatt der Prävention alles zu
opfern. Die Grenzen und die schier unendliche Mängelliste, was die
Verwahrung angeht, arbeitet sie auf sehr anschauliche Weise heraus.
Dennoch handelt es sich bei ihrem Buch nicht um ein Plädoyer zur
Abschaffung von Gefängnissen als solche, wofür aber beispielsweise der
von ihr besuchte Peter Asprion plädiert, sondern um eines, welche die
Auswüchse des Präventionsstrafrechts anklagt und für eine Berichtigung
der vorhandenen Mängel streitet.
Wer sich über die dunkelsten Winkel des Präventionsstrafrechts und dessen zahlreichen Schwächen informieren möchte, bekommt bei Susan Boos einen aktuellen
und fundierten Einblick!
Bibliografische Angaben:
Autorin: Susan Boos
Titel: Auge um Auge – Die Grenzen des präventiven Strafens
ISBN: 978-3-85869-944-2
Verlag: Rotpunktverlag (Schweiz), Preis: 25 Euro
Rezensent:
Thomas Meyer-Falk
z.Zt. JVA (SV)
Hermann-Herder-Str. 8
D-79104 Freiburg
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https://www.freedom-for-thomas.de