Ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit des Strafvollzuges

Beitrag zur Ausstellung zum aktuellen Strafvollzug in der Gedenkstätte Wolfenbüttel

von Helmut Kramer

Gleich zu Beginn (in merkwürdiger Abweichung zu einem bei historischen Schriften üblichen Gliederungsprinzip) des Ausstellungskatalogs (Abschnitt „Strafvollzug heute“, S. 11 – 15) wird ein leuchtendes Bild des heutigen Strafvollzugs gemalt:
Im Gegensatz zum Nationalsozialismus „erfolgen die Rechtsprechung und die Behandlung der Strafgefangenen nach sozial- und rechtsstaatlichen Grundsätzen“ (…) „Ziel des Strafvollzuges ist, die Eigenverantwortung der Gefangenen (zu) stärken und ihnen helfen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Dafür scheut der Staat keinen Aufwand: „Für die Betreuung, sichere Unterbringung und Versorgung der Gefangenen (in der JVA Wolfenbüttel) stehen fast 300 Vollzeitstellen zur Verfügung. Arbeits-, Freizeit- und Therapieangebote sollen den Gefangenen helfen, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten erhöhen die Chance auf Erwerbsmöglichkeiten nach der Haft.“

Dieser Text sieht so aus, als stamme er von einem Publicity-Berater, den ein von öffentlicher Kritik bedrängter Justizminister zu Hilfe gerufen hat.

Bei dieser wirklichkeitsfremden Darstellung wird kaum ein Ausstellungsbesucher auf die Idee kommen, dass sich der Spardruck der öffentlichen Haushalte zum Nachteil der Betreuung und der Resozialisierungsaufgabe auswirken könnte. Wie es mit dem „Leben in freier Verantwortung“ steht, wissen zumindest alle Freigelassenen, die sich nach jahrelangen Haftstrafen draußen zurechtfinden müssen und deren Familien und alte Freunde von ihnen nichts mehr wissen wollen. Da gibt es auch die Haftentlassenen, die mit nicht mehr als einem Pappkarton in der Hand vor der Frage nach einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz stehen.

Zu den Folgen der Verringerung des Vollzugspersonals gehört auch die Verringerung der Arbeitsmöglichkeiten für die Gefangenen, weil nicht genügend Personal für die entsprechende Aufsicht zur Verfügung steht. So werden z. B. in der JVA Tegel die hafteigenen Betriebe einfach geschlossen. Die Gefangenen gehen dann nicht zur Arbeit, sondern bleiben in ihren Zellen – 23 Stunden am Tag, wochentags und am Wochenende. Dies nicht ohne Suizide und Suizidgefahr. Nach einer Recherche des Deutschlandfunks geht man jetzt von jährlich 50 bis 100 solcher Suizide und Suizidversuche aus.

Zu den Folgen gehört auch ein unter den Gefangenen wachsendes Gewaltproblem, besonders in Jugendhaftanstalten. Entweder schließt man sich einer Unterdrücker – Gruppe an oder als Einzelgänger müssen schwächere Gefangene sich die Gunst ihrer aggressiven Mitinsassen mit Geschenken diverser, auch sexueller Art erkaufen, um sich vor Misshandlungen zu schützen.

Auf diese Weise ist in den Männergefängnissen eine Art Subkultur entstanden.

Geringer Status des Vollzugspersonals
Die Bedeutung des Strafvollzuges müsste sich auch in dem Status (Besoldung, Beförderungsmöglichkeiten) widerspiegeln. Dafür, welches öffentliche Ansehen die Vollzugsbediensteten genießen, denen nach einer oft zu kurzen und wenig problematisierenden Ausbildung die schwierige Resozialisierungsaufgabe anvertraut ist, haben die Verantwortlichen der Wolfenbütteler Gedenkstätte ein anschauliches Beispiel geliefert, als es bei der feierlichen Eröffnung der neuen Wolfenbütteler Ausstellung und des Neubaus im Gelände der JVA um den Dank an die Vollzugsbediensteten für ihre große Hilfe und die Bewältigung der schwierigen Umstände in der Zeit der Neubauerrichtung ging: Während Polizeibeamte und Offiziere der Bundeswehr damals in voller Dienstkleidung stolzieren durften, waren die Vollzugsbediensteten gebeten worden, nicht in Dienstkleidung zu erscheinen. Sie sollten ihre Funktion verstecken.

Nun hatten die Ausstellungsmacher jahrelang eine gute Gelegenheit, sich ein Bild vom Strafvollzug zu machen. Teils residierten sie gemeinsam mit der Verwaltung der JVA im selben Gebäude. Nach zuverlässigen Insider-Berichten (u. a. Amtsinspektor Martin Berger) gab es da seitens der Gedenkstättenleitung kein Bemühen um einen Austausch. Aus einer im Rahmen der Neubau-Errichtung gehaltenen Rede der Kultusministerin Frauke Heiligenstadt sahen sich die JVA-Beamten eher abfällig als niedrige Chargen oder als „Einschließer“ abgestempelt.

Nun möchte man gern wissen, welche oder welcher von den 56 MitarbeiterInnen der Ausstellung den auch einen juristischen und soziologischen Sachverstand erfordernden Teil „Strafvollzug heute“ bearbeitet hatten. Wie bei allen anderen Ausstellungsabschnitten fehlt auch hier eine Angabe. Schließlich findet man einen Namen: Yvonne Salzmann, eine „Künstlerin“, die Original-Töne von Gefangenen im Rahmen des Projekts „Wir sind auch nur Menschen“ eingesammelt hat.

Mit der stark euphemistisch verzerrten Darstellung der heutigen Vollzugswirklichkeit hat die Gedenkstätte Wolfenbüttel ihre Aufgabe, als Institution der politischen Bildung aufklärend zu wirken, schwer verfehlt.

Wie die Wolfenbütteler Gedenkstättenleiter auch sonst einer Fortbildung ablehnend gegenüberstehen, lesen sie erst recht keine Fachbücher. So kennen sie wohl auch das Buch von Mehmet Daimagüler und Ernst Freiherr von Münchhausen nicht. Diese haben unter dem Titel „Mangelhaft. Hinter den Mauern deutscher Gefängnisse“ dietriste Wirklichkeit eines Strafvollzuges beschrieben, in dem eine Dominanz und Hierarchie unter den Gefangenen, auch die ständige Suizidgefahr eine wichtige Rolle spielen.

In der neuen Ausstellung haben sich die Ausstellungsmacher nicht nur schwerpunktmäßig mit dem Strafvollzug der NS-Zeit beschäftigt, sondern zur Herstellung eines Gegenwartsbezuges sich auch dem Thema „Strafvollzug heute“ gewidmet. Im Rahmen der Aufgabe der Gedenkstätte als Institution der politischen Bildung hätte die Gedenkstätte sachkundig und kritisch über den Zustand des heutigen Strafvollzugs aufklären müssen.

Diese Aufklärung der Öffentlichkeit über die Zustände in den Justizvollzugsanstalten ist umso wichtiger, als die Strafgefangenen schon immer und noch heute auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Wahrnehmung stehen. Entsprechendes gilt für das Interesse der mehr an Einsparungen als an einer Verbesserung des Strafvollzuges interessierten Politiker. Mit dem „Wegschließen für immer“ hat der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sogar an die Vorurteile der Bürger appelliert.

Wie das einzige relativ politisch unabhängige Gericht – das Bundesverfassungsgericht – die Zustände im Strafvollzug sieht, kann man in dem letzten Grundrechte-Report (2020) nachlesen, mit den Hinweisen von Helmut Pollähne auf drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den sich häufenden Fällen einer Missachtung des „Grundrechts auf Resozialisierung“. Allerdings gehören rechtskundige kritische Schriften wie der Grundrechte-Report wohl nicht zu der regelmäßigen Lektüre der Wolfenbütteler Gedenkstättenleute.

Wenn man, wie die Wolfenbütteler Gedenkstättenleiter und ihre Mitarbeiter, sich ausdrücklich mit dem heutigen Strafvollzug beschäftigt, muss er schon jedes Bewusstsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit verloren haben, wenn er das sensible Thema so unkritisch behandelt wie in dem Abschnitt „Strafvollzug heute“.

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Anmerkung zum Text:

Helmut Kramer, der sich in seiner 30-jährigen Richterzeit und auch im Ruhestand immer wieder mit dem nicht nur sinnlosen, sondern auch menschenrechtswidrigen Strafvollzug beschäftigt hat, weist auf Nachfrage darauf hin, dass er den Text „Ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit des Strafvollzuges“ ursprünglich für den Adressatenkreis von Historikern geschrieben hat, also zumindest für einen in Niedersachsen sozialwissenschaftlich überwiegend wenig gebildeten Kreis von Historikern und Juristen.  

Natürlich ist klar, dass man mit dem Strafvollzug, selbst wenn der Staat mehr Personal- und Finanzmittel investieren würde, das Ziel der sog. Resozialisierung nicht erreichen kann. Die Ursachen von abweichendem Verhalten, wie u. a. Straffälligkeit, reichen schon in die Jugend und im familiären und gesellschaftlichen Umkreis angelegte Entwicklungen viel weiter zurück. 

Hier müsste gesellschaftlich z. B. mit pädagogisch besser ausgestatteten Kindergärten und Schulen angesetzt werden, natürlich mit dem entsprechenden Personalaufwand. Im Ergebnis werden die Kosten durch vermehrte Rückfälligkeit, manchmal auch an die Psychiatrie, ansonsten an die Gesamtgesellschaft weitergereicht.

Den über die Verteilung der finanziellen Ressourcen entscheidenden Politiker fehlt der Mut zur Aufklärung. Zu oft nutzen sie die Vorurteile der Bevölkerung gegenüber Strafgefangenen zum Stimmenfang u. a. bei den Landtagswahlen.