Vorschläge der AG 1 des Netzwerks Abolitionismus zur

Entkriminalisierung und Entrümpelung des Strafrechts[1]*

Download des Beitrages im PDF-Format – hier klicken

In den letzten Jahren ist vielfach ist eine „Entrümpelung“ des Strafrechts gefordert worden[1]. Damit ist eine Vielzahl von Normen gemeint, die kaum noch Anwendung finden („totes Recht“) oder überflüssig, weil bereits anderweitig geregelt, sind. Hinzukommen Normen, die anderweitig geregelt werden könnten und müssten. Bei den folgenden Vorschlägen zur Entkriminalisierung beschränken wird uns auf fünf Materien von vergleichsweise großer quantitativer Bedeutung und bei denen die soziale Schieflage besonders gravierend ist. Wir folgen dabei dem Grundsatz; dass das Strafrecht das letzte Mittel bei der Kontrolle unerwünschten Verhaltens bleiben muss[2].

Leistungserschleichung[3]

Mehr als 10 Prozent aller Verurteilungen nach Allgemeinem Strafrecht erfolgen aufgrund des Deliktes „Erschleichen von Leistungen“ (§ 265a StGB), [4]. In den meisten Fällen handelt es sich um Fahren ohne gültigen Fahrausweis im öffentlichen Nahverkehr („Schwarzfahren“). Diese Masse an Verfahren bindet Leistungen der Strafjustiz für ein Delikt, „an der untersten Grenze desjenigen Bereichs menschlichen Verhaltens, den die Rechtsordnung mit Strafe bedroht“.[5]In fast 3000 Fällen wird direkt eine Freiheitsstrafe (mit oder ohne Bewährung) verhängt, in den übrigen Fällen bleibt es zunächst bei einer Geldstrafe, die jedoch besonders häufig wegen Nichtbezahlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe verwandelt wird. Jede fünfte Person, welche eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt, tut dies wegen „Schwarzfahrens“[6]. Die Verkehrsbetriebe haben vor Jahren sämtliche Zugangshindernisse und Kontrollen beseitigt und bedienen sich des Strafrechts als billigen Ersatz. Die härteste Sanktion des deutschen Strafrechts, die Freiheitsstrafe, wird also wegen eines geringfügigen Deliktes vollzogen. Dies widerspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Konsequenz müsste die Abschaffung des Straftatbestandes sein. Die bloße Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit behebt das Problem nicht, wäre sogar ein „fauler Kompromiss“[7]. Eine solche Änderung bedeutet übrigens nicht, dass das Fahren ohne Fahrschein keine Konsequenzen hätte. Denn: die Verkehrsbetriebe fordern ein erhöhtes Beförderungsentgelt von 60,-€. Wenn dieses nicht gezahlt wird, kommen noch Gebühren für Inkassodienste oder Gerichtsvollzieher:innen und Einträge in die Schufa hinzu.

Ladendiebstahl[8]

Auch der Ladendiebstahl ist ein zumeist im Dunkelfeld verbleibendes Massendelikt. Meist geht es bei dem Diebesgut um Bagatellbeträge.

In den vergangenen 20 Jahren wurden jährlich zwischen 260.000 und 500.000 Ladendiebstähle registriert, das waren zwischen 5 und knapp 10% aller polizeilich registrierten Delikte, langfristig mit abnehmender Tendenz. Dabei gehen einigermaßen seriöse Schätzungen davon aus, dass ca. 95% der Ladendiebstähle unentdeckt bleiben.

Ein Grund für dieses Delikt ist die aus Marketinggründen und Effizienzbestrebungen erfolgende barrierefreie und personalreduzierte Warenpräsentation in Supermärkten und Kaufhäusern, die massenweise Tatgelegenheiten bietet.[9]So erscheint ein Teil der Warensicherung praktisch indirekt an Strafrecht und Strafverfolgungsbehörden „outgesourct“ zu werden.

Die von den Geschäften gemeldeten Ladendiebstähle führen zu einer unverhältnismäßigen zeitlichen Belastung der Polizei und Staatsanwaltschaften. Die Bearbeitung der polizeilich registrierten Ladendiebstahlstäter:innen beansprucht Ressourcen der Justizbehörden und der Polizei, die dann genötigt sind, durch eine hohe Einstellungsquote der Arbeits- und Ressourcenbelastung entgegenzuwirken. Die Anwendung der Einstellungsnormen (§§ 153, 153a StPO) enthält wiederum Einfallstore für Diskriminierung insbesondere der ärmeren Teile der Bevölkerung. Insgesamt ist es der Zufall der Entdeckung gepaart mit dem Opportunitätsprinzip bei der Verfolgung, der schon längst keine „gerechte“ Ahndung mehr ermöglicht.

Konsequenz müsste eine Entkriminalisierung des Ladendiebstahls sein.[10] Dies wird – mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen – seit fast 50 Jahren immer wieder gefordert. Die damaligen „Alternativprofessor:innen“, darunter einige der großen Namen der deutschen Strafrechtswissenschaft, haben schon 1974 den „Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl (AE-GLD) vorgelegt.[11] Auch noch in den 1990ern gab es Vorschläge, Ladendiebstähle formal straffrei zu belassen bzw. durch zivilrechtliche Vertragsstrafen zu ersetzen.[12]

Betäubungsmitteldelikte[13]

Die Repression gegen Drogenkonsumierende hat in den letzten Jahren ein Rekordniveau erreicht. Zwei Drittel der polizeilichen Strafverfolgung betrifft Straftaten im Zusammenhang mit Cannabis – zu 80% sog. „konsumnahe Delikte“ (BKA) mit Mengen zum Eigenbedarf. 20% Prozent aller Strafgefangenen sitzen wegen Drogendelikten ein, hinzu kommt eine große Zahl wegen Beschaffungskriminalität. Die zur Abwehr von Drogenkonsum in Justizvollzugsanstalten ergriffenen Maßnahmen verursachen zudem drastische Einschränkungen bei den Haftbedingungen der übrigen Gefangenen. Neue Formen der Prävention, Therapie und Schadensminderung werden erst möglich, wenn die Repression einer konstruktiven Regulierung weicht und im Gegensatz zum heute gültigen Abstinenzdogma ein vornehmlich gesundheitspolitischer Ansatz mit akzeptanz-/problemorientiertem Schwerpunkt zum Tragen kommt. Ziel wäre eine Regulierung illegaler Substanzen, d.h ein Abbau repressiver Strukturen zugunsten gesundheitlicher Unterstützungen und Hilfen.

Die Konsequenz müsste die Entkriminalisierung der Konsumierenden aller Drogen sein. Ein erster Schritt wäre die, seit langem überfällige Entkriminalisierung von Erwerb, Besitz und Verkauf von Cannabis. Dazu empfehlen sich folgende Maßnahmen:

  • Eigenanbau: Legalisierung des Anbaus für den persönlichen oder gemeinschaftlichen Eigenbedarf
  • Verkauf: Ausschließlich in Fachgeschäften mit Fachpersonal, die Informationsangebote bereithalten und mit der Drogenhilfe vernetzt sind;
  • Lizenzierung: Beschränkung auf Verkaufsstellen in festen Betriebsstätten unter Sicherstellung des Jugendschutzes.
  • Qualitätssicherung/-kontrolle:  Transparenz der Herkunft und Zusammensetzung.
  • Abgabe: Altersgrenze von 18 Jahren für den Kauf
  • Diese Maßnahmen, wissenschaftlich begleitet und evaluiert, könnten sich als Modell für die Legalisierung anderer, bisher illegaler Drogen erweisen.

Ersatzfreiheitsstrafe[14]

Die Ersatzfreiheitsstrafe hat sich als illegitim, sozial selektiv und kriminalpolitisch kontraproduktiv erwiesen. Jährlich treten ca. 50.000 Personen eine Ersatzfreiheitsstrafe an, das bringt einen hohen organisatorischen und finanziellen Aufwand für den Vollzug mit sich.

Die in § 43 StGB vorgesehene automatische Umwandlung uneinbringlicher Geldstrafen in Freiheitsstrafen war von vornherein gesetzgeberisch verfehlt. Alle Versuche, die daraus folgende hohe Zahl von Ersatzfreiheitsstrafen zu reduzieren, haben sich als nicht zielführend erwiesen. Die Behauptung, dass die EFS „das Rückgrat der Geldstrafe“ sei, ist nie durch einen Modellversuch empirisch geprüft worden. Die Implementation der EFS in Strafvollstreckung und Strafvollzug verursacht hohe Kosten.

Konsequenz müsste die ersatzlose Streichung des § 43 StGB sein[15]. Mindestens aber müsste die Regelung auf das ursprüngliche schwedische Modell zurückgesetzt werden[16]. Danach muss in jedem einzelnen Fall ein Gericht prüfen, ob die Uneinbringlichkeit der Geldstrafe auf Zahlungsunwilligkeit oder -unfähigkeit beruht[17]. In Schweden hat diese Verfahrensweise de facto zur fast völligen Beseitigung der EFS geführt.

Strafbefehle

Das Strafbefehlsverfahren (§ 407 ff. StPO) erlaubt es, „Fälle minder schwerer Kriminalität“[18] schnell und effektiv auf schriftlichem Wege zu bearbeiten. Je nach Region sind dies bis zu 90 % der Geldstrafen.[19] Der Strafbefehl wird per Post zugestellt. Verurteilte können binnen zwei Wochen Einspruch einlegen und damit eine Hauptverhandlung erwirken. Jedoch erfassen das die wenigsten – oder sie verfügen nicht über die entsprechende Beschwerdemacht, dies zu tun. Diese Vorgehensweise bringt eine Reihe von Problemen mit sich:

  • viele Betroffene sind von dem schriftlichen Verfahren und der ungewohnten Rechtssprache überfordert und begreifen weder die Strafe noch deren drohenden Vollstreckung,
  • diese soziale Ungerechtigkeit verschärft sich, wenn bildungsferne Angeklagte auf einen Einspruch verzichten.[20]
  • die erlebte Verfahrens(un)gerechtigkeit führt zu mangelnder Akzeptanz der Entscheidung.[21]
  • bei Nicht-Zahlung wird aus einer Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe.
  • Konsequenz müsste die völlige Beseitigung dieses rechtsstaatswidrigen Verfahrens sein[22]. Dies erfordert allerdings eine vorhergehende Entrümpelung des Strafrechts/Entkriminalisierung von Bagatelldelikten. Bei Beibehaltung des Strafbefehlsverfahrens muss gefordert werden, dass der/die Beschuldigte, nach Rechtsberatung, der Strafe zustimmt.

[1] Verfasst von: Gundel Berger, Dr. Nicole Bögelein, Prof. Dr. Sven-Uwe Burkhardt, Prof. Dr. Johannes Feest, Prof. Dr. Henning Ernst Müller, Prof. Dr. Helmut Pollähne, Britta Rabe, Prof. Dr. Sebastian Scheerer, Dr. Volkmar Schöneburg, Dr. Frank Wilde.

[1]Elisa Hoven, Was macht Straftatbestände entbehrlich? – Plädoyer für eine Entrümpelung des StGB. , in: ZStW 2017, 334-348. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zstw-2017-0013/pdf;

Sebastian Scheerer, Entrümpelung und Entkriminalisierung. http://strafverteidigervereinigungen.de/Schriftenreihe/Texte/Band%2042/Scheerer_433_453_42SchrStVV.pdf; Erweiterte Fassung in: KrimJ 2019, 131-146. https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-2019-2-131.pdf?download_full_pdf=1;

vgl. auch „ist das strafrecht oder kann das weg?“ In: freispruch. Mitgliederzeitschrift der Strafverteidigervereinigungen, Heft 14, März 2019, 1-23 (mit Beiträgen von Elisa Hoven, Helmut Pollähne u.a.).

[2] So schon Peter-Alexis Albrecht u.a.: Strafrecht – ultima ratio. Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und Strafverfahrensrechts. Baden-Baden 1992.

Peter-Alexis Albrecht/Winfried Hassemer/Michael Voß: Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung. Vorschläge der Hessischen Kommission „Kriminalpolitik“ zur Reform des Strafrechts. Baden-Baden 1992.

[3] Jan Schwenke, Zur Strafbarkeit der Beförderungserschleichung § 265a StGB. Diss. Hamburg 2009.

[4] Destatis, Rechtspflege, Strafverfolgung 2020, Fachserie 10.3.

[5]OLG Brandenburg, Beschluss vom 19. Januar 2009 – 1 Ss 99/08. Online unter: https://openjur.de/u/279533.html (Abruf am: 31.03.2022).

[6]Nicole Bögelein/André Ernst/Frank Neubacher, Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen, Baden-Baden 2014, 29.

[7] Eine Frage an Thomas Fischer, Sollte Schwarzfahren weiter bestraft werden? In: Legal Tribune Online, 23.05.2022. Ähnlich Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. München 2022, 203 f.

[8] Dagmar Oberlies/Fredericke Leuschner: Ladendiebstahl – Überlegungen zu einem rechts- und kriminalpolitisch angemessenen Umgang. In: Neue Kriminalpolitik 2/2017, 179-189.

[9] Vgl. Peter-Alexis Albrecht, Kriminologie (4. Aufl. München 2010), S. 325 f.

[10] Peter-Alexis Albrecht, Kriminologie (4. Aufl. München 2010), S. 327.

[11] Arbeitskreis deutsche und schweizerischer Strafrechtslehrer (Hrsg.): Entwurf eines Gesetzes gegen den Ladendiebstahl, Tübingen 1974; vgl. dazu die Besprechung von Gunther Arzt, in: Armin Schoreit (Hrsg.): Problem Ladendiebstahl. Moderner Selbstbedienungsverkauf und Kriminalität Heidelberg 1979, S. 9 ff.

[12] Peter-Alexis Albrecht, Strafrecht – ultima ratio. Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts, Baden-Baden 1992, S. 29 ff.

[13] Heino Stöver/Daniel Deimel/Anna Dichtl, Der Prozess der Kriminalisierung und Inhaftierung drogenkonsumierender Menschen in Deutschland. Implikationen für eine gesundheitsbezogene Rehabilitation und Resozialisierung. In: Rechtspsychologie 2021, 489-514

[14] Nicole Bögelein, Ersetzt Freiheit Geld? Ein empirischer Blick auf die Ersatzfreiheitsstrafe. In: B.-D. Meier & K. Leimbach (Hrsg.), Gefängnisse im Blickpunkt der Kriminologie. Springer: Wiesbaden 2020.

Johannes Feest, Ersatzfreiheitsstrafe: Ärgernis und Lösungen, in: Akzept e.V., Alternativer Drogen- und Suchtbericht, 2017, 31-36.

[15] Johannes Feest: Weg mit der Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB)! Eine Petition mit Fußnoten. In: Felix Herzog u.a. (Hrsg.), Rechtsstaatlicher Strafprozess und Bürgerrechte. Gedächtnisschrift für Edda Weßlau. Duncker & Humblot: Berlin 2016, 491-494.

[16] Nicole Bögelein, Frank Wilde und Axel Holmgren: Geldstrafe und Ersatzfreiheitsstrafe in Schweden –Ein Vergleich mit dem deutschen System. In: Monatsschrift für Kriminologie, 2022 (im Druck).

[17]  So auch Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. München 2022, 205.

[18] Werner Beulke, Strafprozessrecht. 11. Auflage. Heidelberg, Neckar: Müller 2010.

[19] Wolfgang Heinz. Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland-Berichtsstand 2015 im Überblick. Stand: Berichtsjahr 2015; Version: 1/2017. https://www.uni-konstanz.de/rtf/kis/Kriminalitaet_und_Kriminalitaetskontrolle_in_Deutschland_Stand_2015.pdf, 107

[20] Jana Kolsch: Sozioökonomische Ungleichheit im Strafverfahren, Eine empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung abgekürzter Verfahrensarten. LIT Verlag 2020.

[21] vgl. Tom R. Tyler, Procedural Fairness and Compliance with the Law. Swiss Journal of Economics and Statistics 133(2), 1997, 229).

[22] So auch Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. München 2022, 206 ff.