Texte rund um das Strafvollzugsarchiv. Untersuchungen zur Kriminalpolitik und zum Strafvollzug. Nachdruck älterer und neuerer Aufsätze von Johannes Feest.

(Schriftenreihe des Strafvollzugsarchivs, hrsg. von Christine Graebsch, Sven-Uwe Burkhardt und Johannes Feest).
Springer: Wiesbaden 2020, IX + 339 Seiten, Softcover 79,99 €, eBook 62,99 €.
Zur Einführung hier die Verlagsankündigung mit den Anfängen aller Texte: https://www.springer.com/de/book/9783658288082 sowie das 
Geleitwort Christine Graebsch und Sven-U. Burkhardt.

Geleitwort von Christine Graebsch und Sven-U. Burkhardt

Der 80. Geburtstag von Johannes Feest am 21.11.2019 war Anlass dieser Neuveröffentlichung von Texten, die er alleine oder gemeinsam mit anderen verfasst hat. Eine gewöhnliche Festschrift zum 80. Geburtstag sollte es nicht sein. Daher hatten wir schon zum Eintritt von Johannes Feest in den (formalen) Ruhestand etwas besonderes Anderes initiiert: eine Feestschrift (Burkhardt, Graebsch & Pollähne 2005). Dies ließ sich nun nicht einfach in ähnlicher Weise wiederholen. Also entschied Johannes mit uns gemeinsam, die Sache diesmal selbst in die Hand zu nehmen, sich seine eigene Fe(e)stschrift zu widmen. Er erstellte eine Liste seiner Publikationen und wählte einige besonders wichtige und heute noch aktuelle aus, um sie besser zugänglich zu machen. Sie dokumentieren die Geschichte und Arbeit des Strafvollzugsarchivs sowie seines Begründers, Johannes Feest, exemplarisch.

Ein weiterer Anlass der Publikation ist nämlich der (ca.) vierzigste Geburtstag des von Johannes Feest begründeten Strafvollzugsarchivs. Das Strafvollzugsarchiv ist eine Einrichtung zur Erforschung der Rechtswirklichkeit in Gefängnissen, die auch rechtlichen Rat an Gefangene und Untergebrachte erteilt. Auf diese Weise ist die Kommunikation nicht einseitig von uns an die Gefangenen gerichtet, wie bei klassischer Beratung, aber auch nicht einseitig die Gefangenen befragend, wie es traditionell bei Forschung oft der Fall ist.

Die wiederveröffentlichten Beiträge handeln teilweise ausdrücklich von der Arbeit des Strafvollzugsarchivs, teilweise stellen sie wichtige Grundlagen, Ausgangspunkte und Ergebnisse seiner Arbeit dar, die mit der seines Begründers untrennbar verbunden ist. Getrennt wurde das Strafvollzugsarchiv 2012 dennoch zumindest räumlich von seinem Begründer. Da die Universität Bremen ihm die Räumlichkeiten nicht weiter zur Verfügung stellte, zog es (kurz nach und zu mir/uns) an die Fachhochschule Dortmund um. Das galt zunächst einmal für die Bücher und das sonstige archivierte Material. Entgegen dem durch den Namen erzeugten Eindruck besteht das Kerngeschäft des Strafvollzugsarchivs jedoch in der Beantwortung von Gefangenenbriefen mit Rechtsfragen zum Thema Strafvollzug und um diesen herum. Diese Tätigkeit an der Fachhochschule Dortmund fast ohne Finanzierung, fast ohne einen akademischen Mittelbau, ohne Studierende der Rechtswissenschaft etc. fortzuführen, ist wahrlich keine einfache Aufgabe. Sie konnte bislang vor allem deswegen gemeistert werden, weil Johannes Feest weiterhin eine Vielzahl von Gefangenenbriefen beantwortet – von Bremen aus, aber im Namen des nun an der Fachhochschule Dortmund ansässigen Strafvollzugsarchivs. Neben den Gefangenen wissen auch wir diese Tätigkeit sehr zu schätzen. Bis vor einiger Zeit betrieb Johannes Feest zudem die Homepage des Strafvollzugsarchivs unter www.strafvollzugsarchiv.de weiter. Leider war diese Seite aber nun seit einigen Jahren nicht mehr erreichbar und konnte aus technischen Gründen auch nicht mehr „wiederbelebt“ werden. Wir freuen uns aber, dass pünktlich zu den Jahrestagen unter derselben Domain wieder ein Internetauftritt des Strafvollzugsarchivs existiert.

Die in diesem Band abgedruckten Texte gruppieren sich um die Begriffe Definitionsmacht, Renitenz und Abolitionismus. Der erste Text (Die Situation des Verdachts) ist ein Auszug aus der umfangreicheren Publikation von Feest und Blankenburg (1972). Es handelt sich dabei um einen wichtigen Schlüsseltext der Kritischen Kriminologie (dazu Behr 2017). Dies bezieht sich unter anderem auf die Forschungsperspektive – im wahrsten Sinn des Wortes: Vom Rücksitz eines Streifenwagens aus teilnehmend zu beobachten. In den seither vergangenen mehr als vier Jahrzehnten sind einige Entwicklungen eingetreten, die die Beschreibung der Situation des Verdachts veraltet erscheinen lassen mögen. So bedarf die polizeiliche Kontrolle nur noch in abnehmendem Maße eines vorherigen Verdachts, sie ist zunehmend „anlassunabhängig“ möglich. Auch muss sich der Verdacht in abnehmendem Maße auf eine in der Vergangenheit begangene Straftat richten. In vielfältigen juristischen Konstellationen reicht inzwischen vielmehr der Verdacht aus, es würde in der Zukunft erst noch eine solche begangen. Mit dieser PreCrime-Orientierung befasst sich der Text „In dubio pro securitate?“ aus dem Jahre 2010 kritisch. Johannes Feest forderte damit schon früh eine rechtliche Ungefährlichkeitsvermutung einzuführen. Diese existiert allerdings bis heute nicht – sie wäre jedoch von Tag zu Tag wichtiger, in umgekehrter Relation zu der (geringen) Bedeutung, die eine solche Forderung in der Rechtswissenschaft gegenwärtig spielt (vgl. aber Pollähne 2018 und schon sehr früh Kühl & Schumann 1989 für ein Recht nicht als falsch positiv begutachtet zu werden). Auch mit der „Situation des Verdachts“ und der Definitionsmacht der Polizei verhält es sich jedoch so, dass deren Bedeutung durch die beschriebenen Veränderungen heute noch enorm gestiegen ist. Denn vor deren Hintergrund spielt die soziale Selektivität (Behr 2019: „social profiling“) eine noch größere Rolle. Das gilt auch, im Angesicht weiterer Entwicklungen, die als Krimmigration (Verschmelzung von Kriminalitäts- und Migrationskontrolle, dazu Graebsch 2019) bezeichnet werden können, für die Selektivität und Definitionsmacht anhand zugeschriebener ethnischer Kategorisierungen (Belina & Keitzel 2018: „racial profiling“).

2013 wurde endlich die langjährige Forderung erfüllt, in das Strafvollzugsgesetz eine dem Verwaltungsrecht entsprechende Regelung zur Zwangsvollstreckung einzufügen. Leider hat sich dadurch das von Feest und Lesting seit 1987 beschriebene Problem der renitenten Vollzugsbehörden (Lesting &Feest 1987) keineswegs erledigt. Vielmehr existieren weiterhin alte und neue Mechanismen, mit denen Vollzugsanstalten die Umsetzung gerichtlicher Entscheidungen verwehren können. Die wahrscheinlich wichtigste ist und bleibt das Spielen auf Zeit. Es verschärft die Situation von Gefangenen zusätzlich, da es sich bei Strafvollzug ohnehin um eine Zeitstrafe handelt. Ein wesentlicher, das Zuwarten der Anstalt begünstigender Faktor ist, dass es keine effektive Möglichkeit gibt, Gerichte zum Tätigwerden zu veranlassen. Hat der oder die Gefangene also im Verfahren nach § 109 StVollzG Recht bekommen, und setzt die Anstalt die Entscheidung dann dennoch nicht um, ist es nunmehr zwar möglich, einen Antrag auf Androhung und Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen die Anstalt bei Gericht zu stellen. Lässt das Gericht diesen Antrag jedoch monatelang unbearbeitet liegen, so hat die Anstalt dennoch jedenfalls für einen längeren Zeitraum ihr Ziel erreicht. Die meisten Anträge von Gefangenen nach § 109 StVollzG sind jedoch ohnehin nicht erfolgreich und hier spielt der Zeitfaktor – auch bezogen auf die Gerichte – ebenfalls eine negative Rolle. Nicht selten dauert es jahrelang, bis eine Entscheidung ergangen ist, obwohl es sich zumeist um Angelegenheiten handelt, die den Alltag der Gefangenen während dieses Zeitraums negativ bestimmen. Besonders unrühmlich ist die Rolle der Justiz, wenn sie mit einer Entscheidung solange zuwartet, bis sich die Sache durch Entlassung oder in anderer Weise erledigt hat, und dann eine ablehnende Entscheidung wegen des (nun) fehlenden Rechtsschutzinteresses trifft. Gefangene haben gegen eine solche Blockadehaltung weiterhin kein wirksames rechtliches Mittel. Die früher dafür teilweise als zulässig erachtete Untätigkeitsbeschwerde zum OLG wurde durch das Verfahren nach § 198 GVG abgelöst. In dessen Rahmen kann Verzögerungsrüge erhoben und später eventuell Schadensersatz wegen des dadurch entstandenen materiellen und immateriellen Schadens verlangt werden. Für dessen Durchsetzung muss allerdings ein weiteres zeit- und kostenaufwendiges Verfahren durchlaufen werden. An dessen Ende kann auch eine Entscheidung des Gerichts stehen, dass bereits die Feststellung, die Entscheidung sei verzögert ergangen, Entschädigung genug sei. In der Sache selbst ist eine Beschleunigung mit dem Verzögerungsverfahren ohnehin allenfalls über einen Warn- und Abschreckungseffekt zu erzielen, von dem noch unklar ist, ob er bei den Gerichten eintritt. Neben dem Spielen auf Zeit haben die Anstalten zudem noch vielfältige weitere Möglichkeiten der expliziten oder impliziten Renitenz, die bereits Feest, Lesting und Selling (1997) herausgearbeitet haben. In einem aktuellen Fall bediente sich die Anstalt etwa des Mittels der – für den Gefangenen unerwünschten – Verlegung in eine andere Anstalt, nachdem dieser nach jahrelanger Falschbehandlung erfolgreich eine medizinische Behandlung durchgesetzt hatte, statt den Anstaltsarzt in der eigenen Anstalt zu verpflichten, die als notwendig festgestellte Behandlung vorzunehmen. Erst das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 30.11.2016, 2 BvR 1519/14, juris) stellte dann die Rechtswidrigkeit der Verlegung fest. Diese Beispiele mögen zeigen, dass die Pionierarbeit von Johannes Feest und anderen auf dem Gebiet der Renitenz von Vollzugsbehörden mit der Neuregelung des § 120 Abs. 1 StVollzG keineswegs zu einem Ende gekommen ist, sondern dringend der Fortsetzung bedarf. Auf diesem Gebiet ist das Strafvollzugsarchiv auch weiterhin tätig.

Der dritte Themenkomplex der in diesem Band veröffentlichten Texte rührt in gewisser Weise von den vorherigen her. Die Erfahrung mit der Definitionsmacht strafverfolgender und strafvollstreckender Behörden und mit deren Renitenz, die Schwierigkeit deren Handeln (menschen)rechtlich einzuhegen, dürfte nicht unerheblich zu der Sichtweise beitragen, dass totale Institutionen und strafender Freiheitsentzug nicht nur reformiert, sondern perspektivisch abgeschafft werden müssen. Dementsprechend beschäftigen sich die Texte im letzten Teil mit der Haltung und Begründung des Abolitionismus. Johannes Feest hat aktuell zudem ein abolitionistisches Manife(e)st ins Leben gerufen, mit dem ein Diskussionsprozess zu diesem Thema initiiert werden soll bzw. soll an in der Vergangenheit geführte und teilweise in diesem Band dokumentierte sowie aktuell in internationalem Zusammenhang entstandene Diskussionsprozesse angeknüpft werden. Dafür wird auf der neu aufgesetzten Homepage des Strafvollzugsarchivs (www.strafvollzugsarchiv.de) ein Rahmen geschaffen.

Unser allerherzlichster Dank geht an Natalie, die im Zuge der Erstellung dieses Werkes, aber davon unabhängig, ihren Nachnamen von Gansäuer zu Ozimek gewechselt hat. Sie hat es geschafft, wie von Zauberhand und blitzschnell die Texte aus den verschiedensten Quellen in eine aktuelle Fassung zu verwandeln, das Layout zu vereinheitlichen, Korrekturen umzusetzen usw. Ohne sie wäre die Fertigstellung zum oder bis jedenfalls kurz nach dem 80. Geburtstag von Johannes niemals möglich gewesen.

Verweise

Behr, R. (2019). Verdacht und Vorurteil. Die polizeiliche Konstruktion der „gefährlichen Fremden“. In C. Howe & L. Ostermeier (Hrsg.), Polizei und Gesellschaft. Transdisziplinäre Perspektiven zu Methoden, Theorie und Empirie reflexiver Polizeiforschung (S. 17-45). Wiesbaden: Springer VS.
Behr, R. (2017). Feest, Johannes/ Blankenburg, Erhard (1972): Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag. In C. Schlepper & J. Wehrheim (Hrsg.), Schlüsselwerke der Kritischen Kriminologie (S. 167-174). Weinheim: Beltz Juventa.
Belina, B. & Keitzel, S. (2018). Racial Profiling. Kriminologisches Journal, (50)1, 18-24.
Burkhardt, S.-U., Graebsch, C. & Pollähne, H. (2005).(Hrsg.). Korrespondenzen in Sachen: Strafvollzug, Rechtskulturen, Menschenrechte, Kriminalpolitik. Eine Lese-Theater als Feestschrift. Münster: LIT-Verlag.
Feest, J. & Blankenburg, E. (1972). Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion. Düsseldorf: Bertelsmann.
Feest, J., Lesting, W. & Selling, P. (1997). Totale Institution und Rechtsschutz: Eine Untersuchung zum Rechtsschutz im Strafvollzug. Wiesbaden: Springer VS.
Graebsch, C. (2019). Krimmigration: Die Verpuzzelung strafrechtlicher mit migrationsrechtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung des Pre-Crime-Rechts für „Gefährder“. KrimOJ – Kriminologisches Online-Journal, 1.
Kühl, J. & Schumann, K. F. (1989). Prognosen im Strafrecht. Probleme der Methodologie und Legitimation. Recht & Psychiatrie, 7, 126–148.
Lesting, W. § Feest, J. (1987). Renitente Strafvollzugsbehörden: Eine rechtstatsächliche Untersuchung in rechtspolitische Absicht. Zeitschrift für Rechtspolitik, 390-393.
Pollähne, H. (2018). Von der Unschulds- zur Ungefährlichkeitsvermutung. In S. Barton, T. Fischer, M. Jahn & T. Park (Hrsg.), Festschrift für Reinhold Schlothauer zum 70. Geburtstag (S. 53-64). München: C.H. Beck