Redakteure der unzensierten Dresdner Gefangenenzeitung „Der Riegel“ berichten
Verlag Notschriften: Radebeul 2021. 296 Seiten, € 12,90.

von Prof. Dr. Johannes Feest, Bremen

Gefangenenzeitungen sind für viele Zeitungsleser und Benutzer sozialer Medien in Deutschland Immer noch relativ unbekannte Wesen. Dabei sind sie längst eine deutsche Spezialität geworden.  Genau genommen müssten sie allerdings als Gefangenen-„Zeitschriften“ bezeichnet werden, da sie nur unregelmäßig erscheinen. Die ersten Gefangenenzeitschriften (prison journals) gibt es allerdings seit 1800 in den Vereinigten Staaten, in Deutschland erst etwa 100 Jahre später. Während in den USA zeitweise 200 existierten, ist davon heute, außer den „San Quentin News“, nicht mehr viel übrig. In Deutschland hingegen hat sich dieses Medium nach dem 2.Weltkrieg kräftig entwickelt und erhalten. Heute gibt es in allen größeren Anstalten eine Gefangenenzeitschrift, insgesamt etwa 60 und damit weit mehr als in anderen Ländern.

Auch die Bezeichnung „Gefangenen“-Zeitschrift muss hinterfragt werden. Anfangs waren es schlichte Anstaltszeitungen, gedacht zur Erziehung der Gefangenen und als positive Außendarstellung der Anstalt. Heute werden sie durchwegs von Gefangenen redigiert, aber dennoch tragen sie vielfach noch Züge von Anstaltszeitungen: Herausgeber ist in der Regel der Anstaltsleiter (oder ein von ihm bestimmter Vollzugsbeamter); die von der Redaktion vorzulegenden Manuskripte unterliegen der Zensur, was umso leichter durchgesetzt werden kann, als die Anstalt zumeist Druck und Vertrieb organisiert und finanziert. Von diesem bundesweit üblichen Modell der Gefangenenzeitschrift gibt es nur wenige Ausnahmen. Die bekannteste davon ist der LICHTBLICK, der über ein Redaktionsstatut und damit „unzensiert“ über erhebliche redaktionelle Freiheit verfügt. Die Grenzen dieses Modells haben sich kürzlich gezeigt, da die Anstalt Finanzierungsprobleme signalisiert hat und die Redaktion eine Spendensammlung beginnen musste, die hoffentlich zu einem, wenigstens temporär, guten Ende führen wird.

Von einem anderen Modell ist hier zu berichten. Die Gefangenenzeitschrift der JVA Dresden „DER RIEGEL“ gibt es genauso lange wie die Anstalt, nämlich seit dem Jahre 2001. Bundesweit ist sie wahrscheinlich weit weniger bekannt als der LICHTBLICK. Sie ist vergleichsweise schlicht aufgemacht, enthält auch keine mehrfarbigen Illustrationen.  Dafür hat sie jedoch den Alleinstellungsanspruch, dass ausgewählte Beiträge der letzten 20 Jahre jetzt in Buchform erschienen sind. Und aus den Vorbemerkungen der Herausgeber ergibt sich, dass auch die Redakteure des RIEGEL nicht der Anstaltszensur unterliegen, da die Zeitschrift vom Verein „HAMMER WEG e.V.“ herausgegeben wird:

„Unzensiert und ohne in eine hauptamtliche Beamten- oder Angestelltenstruktur eingebunden zu sein, haben sie für die 750 Insassen der JVA und andere interessierte LeserInnen von drinnen und draußen aufgeschrieben, was sie beschäftigte und ihnen von allgemeinem Interesse für ihre LeserInnen schien“. Die Redaktion besteht übrigens aus dem Herausgeber und Vereinsvorsitzenden, Prof. Ulfrid Kleinert, und 6-8 weiteren Mitgliedern, die wegen der hohen Fluktuation der Gefangenen im Durchschnitt alle zwei Jahre wechseln. Neben dem Herausgeber gehören der Redaktion momentan Inhaftierte und eine Lehrerin der JVA an. Bemerkenswert ist auch die Kooperation mit der Frauen-Redaktion der (zensierten) Zeitschrift HAFTLEBEN der JVA Chemnitz.

Eine Auswahl aus den in 20 Jahren im RIEGEL erschienenen Beiträge bildet den Inhalt des Buches.  Die Herausgeber, Prof. Ulfrid Kleinert und Lydia Herwig, haben die ausgewählten Beiträge thematisch geordnet.

  • Das beginnt mit den laufenden Berichten über Konzerte, Theater, Film, Ausstellungen und das Sportfest. Auch der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene findet gebührende Erwähnung, da ein Redaktionsmitglied im Jahre 2008 zu den Preisträger:innen gehörte, allerdings nicht an der Preisverleihung in Dortmund teilnehmen durfte. Dies wurde später von der Strafvollstreckungskammer für rechtswidrig erklärt. Dieser Konflikt ist in einem Artikel festgehalten, den der Herausgeber Prof. Kleinert selbst verfasst hat und in dem es lakonisch heißt, der Vorfall zeige „dass auch eine JVA Fehler machen kann“.
  • Im zweiten Kapitel wird beispielhaft und anschaulich aus dem Knastalltag berichtet, z.B. über eine, wenig zufriedenstellende, Vollzugsplankonferenz,  über Erfahrungen mit verschiedenen Arten von Gefangenenarbeit und über Schule im Vollzug (aus Lehrerperspektive). Zum Knastalltag gehören natürlich auch Konflikte zwischen Gefangenen bzw. zwischen diesen und Bediensteten. Im Mittelpunkt steht die ausführliche Schilderung der „Delogierung“ eines Gefangenen durch seinen Zellengenossen, der dafür mit vier Wochen Sportsperre bestraft wurde. Im RIEGEL werden hier „Fehler beim Vollzugspersonal“ ausgemacht,  zugleich die Frage aufgeworfen, was man aus solchen „Fehlern“ lernen könne. Wenig schmeichelhaft wird über die Arbeit der Insassenvertretung (GMV) berichtet, was in anderen Anstalten ähnlich ausfallen würde. Ein ehemaliges Mitglied dieser Institution zeigt sich in einem Rechenschaftsbericht von den Ergebnissen einigermaßen desillusioniert. Und ein Gefangener wird mit den Worten zitiert, „er könne eine konstruktive Arbeit der GMV nicht erkennen. Das Bild wird vervollständigt durch einen Brief, den die GMV an das zuständige Ministerium geschrieben hat. Dabei ging es um die unfaire Preisgestaltung des Anstaltskaufmannes. Das Ministerium wurde dazu um Informationen gebeten, mit dem Zusatz: „Wir behalten uns vor, den Inhalt über unsere Gefangenenzeitschrift allen Insassen zugänglich zu machen“ (86). Offenbar hat es keine abdruckbare Antwort gegeben, jedenfalls wird keine mitgeteilt. Das Kapitel schließt mit kritischen Berichten über „besondere Ereignisse“ (Dachbesteigung, Geiselnahme, Fall Hoeneß).
  • Ein weiteres Kapitel betrifft Texte zum Personal: über den Allgemeinen Vollzugsdienst, den Sozialdienst, den Pädagogischen Dienst, die Seelsorge und die Ehrenamtlichen. Nicht systematisch „vorgestellt“ werden so wichtige Gruppen wie die Psychologen, der medizinische Dienst und die Werkbeamten, erst recht nicht die Anstaltsleitung. Auffällig ist, dass der Sozialdienst und der Pädagogische Dienst primär aus deren Perspektive (durch Interviews) dargestellt wird. Immerhin wird zusätzlich ein älterer Gefangener zitiert, der einen Neuling über die „Sozialtante“ wie folgt belehrt: „wenn Du mit der redest, hast Du mehr Probleme als vorher“. Sehr ausführlich und positiv kommen die Seelsorger:innen weg, sowohl im Urteil der Gefangenen als auch in ihrem eigenen.
  • Das längste Kapitel umfasst höchst unterschiedliche „Themenschwerpunkte“: von Berichten über Drogen, Weihnachten und Opfer bis zu Resozialisierung und Menschenwürde (also Themen, die auch sonst in der Gefangenenpresse regelmäßig vorkommen). Originell sind nostalgische Rückblicke auf Erfahrungen in der DDR, aber auch Texte über „Angst“ und zur Frage „Was im Leben wichtig ist“. Dieses kunterbunte Kapitel hier Einzelnen darzustellen würde allerdings den Rahmen dieser Rezension sprechen
  • Ein weiteres Kapitel handelt von den verdienstvollen Tagungen, die vom Verein HAMMER WEG an der Evangelischen Akademie in Meißen zu kontroversen Themen der Kriminalpolitik und des Strafvollzuges veranstaltet werden. Eine Gefangenenzeitschrift kann froh sein, wenn sie eine solche Akademie in der Nähe hat, in deren Rahmen mehr oder weniger prominente Politiker und Wissenschaftler, sowie der Straffälligenhilfe sich austauschen. Der Rezensent war zweimal dabei und erinnert sich an eine großartige Diskussion über das kommende Landes-Strafvollzugsgesetz, an der nicht nur der leitende Ministerialdirigent, sondern auch Politiker sämtlicher im Landtag vertretenen politischen Parteien aktiv teilnahmen. Nicht einmal in den Stadtstaaten findet man eine solche Verdichtung der kriminalpolitischen Diskussion.
  • Das Buch schließt mit „besinnlich-fröhlichen“ poetischen und satirischen Texten, wie sie wohl öfter im RIEGEL vorkommen. Vieles davon wäre sehr geeignet, beim Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene eingereicht zu werden.

Während in vielen Gefangenenzeitschriften mehr oder weniger ausführlich über Rechtsfragen oder  Gerichtsentscheidungen zum Strafvollzug berichtet wird, habe ich dazu in dem Sammelband fast gar nichts gefunden, jedenfalls keinen eigenen Abschnitt. Überrascht hat mich auch, dass kaum etwas über die in allen Knästen typischen Beschwerdethemen (Lockerungen, Gesundheitsfürsorge, Anstaltsessen) zu finden ist.  Der Rezensent hat sich gefragt, ob diese Themen im RIEGEL nicht vorkamen oder ob sie der Auswahl für den Sammelband zum Opfer gefallen sind. Die Strafvollstreckungskammer wird nur im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Fall der Gefangenen erwähnt, die den Literaturpreis nicht persönlich entgegennehmen durfte. Das wurde vom Gericht später als „rechtswidrig“ bezeichnet, wovon sie sich aber auch nichts kaufen konnte.

Der Sammelband bietet einen sehr guten Einblick in die Arbeit der Redaktion des RIEGEL über einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Wie schon erwähnt, ist der RIEGEL von der Anstalt unabhängig und unzensiert. Während der Lektüre habe ich mich gefragt, was das genau bedeutet. Denn wenn die Zeitschrift, wie üblich, in der Anstaltsdruckerei gedruckt und von der Anstalt versandt würde, könnte die Anstalt jederzeit die Fertigstellung und Verteilung verhindern.  Eine Rückfrage bei Prof. Kleinert hat ergeben, dass der Druck nicht in der JVA Dresden, sondern gegen Bezahlung im Berufsförderungswerk der JVA Waldheim stattfindet. Dafür erhält der Verein einen jährlichen Zuschuss vom Ministerium. Die Auslieferung erfolgt ehrenamtlich durch Vereinsmitglieder. Damit ist die Unabhängigkeit von der Anstalt in vorbildlicher Weise hergestellt.

Man kann sich fragen, ob in dem Buch ein ähnlich guter Überblick über die JVA Dresden hergestellt wird. Dafür spricht die Breite der Themen und der Input von immer wieder wechselnden Gefangenen und Bediensteten in den Seiten des RIEGEL. Andererseits bleibt Einiges ausgespart,  sei es, weil es in der Zeitschrift weniger thematisiert wurde, sei es , weil bestimmte Themen bei der Auswahl unberücksichtigt geblieben sind. Weiter oben wurden schon die Fragen des Rechts und speziell des Rechtsschutzes im Knast erwähnt. Aber auch die Umsetzung des Rechts durch wechselnde Anstaltsleiter, Staatssekretäre und Justizminister hätte Erwähnung in einem Reader über ein deutsches Gefängnis im 21.Jahrhundert verdient gehabt. Das sind Themen, die zwar in den Berichten über die Tagungen in Meißen vorkommen, aber kaum als eigene Beiträge der Redakteure des RIEGEL.  Diese Zurückhaltung ist wohl Ausdruck eines politischen Stils der Redaktion, der weniger konfrontativ als kommunikativ sein möchte. Das könnte der Einfluss von Prof. Ulfrid Kleinert sein, der auf vielen Ebenen (Hochschule, Beirat, Akademie, Verein, Zeitschrift) als eine Art grauer Eminenz gewirkt und auf diese stille Weise der Praxis einen Stempel aufgedrückt hat. Seinem Nachfolger, RA Hermann Jaekel, ist eine ähnlich glückliche Hand und viel Erfolg zu wünschen.

Diese kurze Rezension kann selbstverständlich nicht den Eindruck vermitteln, den die Lektüre des Buches selbst hinterlässt. Es ist ein starker Eindruck, der in vielen kleinen Bildern kaleidoskopartig vermittelt wird. Man kann das Buch daher auch schwerlich auf einen „Rutsch“ lesen, dafür an beliebigen Stellen einsteigen. Ich bin aber sicher, dass alle Leser:innen im Inhaltsverzeichnis oder beim Blättern Texte finden werden, die speziell ihnen Aspekte des Themas Gefängnis und Gefangenensein näher bringen.