In der ZEIT vom 14. Mai plädiert Thomas Galli für die Abschaffung der Gefängnisse. Die meisten Haftstrafen würden niemanden nutzen, weder die Insassen zu anderen, besseren Menschen machen, noch einen wirklichen Ausgleich für die Opfer von Verbrechen bringen, so der ehemalige JVA-Leiter und heutige Strafrechtsanwalt.

An dieser Stelle möchten wir aus aktuellem Anlass noch einen anderen Aspekt in die unseres Erachtens wirklich notwendige Diskussion einbringen, der zeigt, dass die derzeit praktizierte Unterbringung sogar den Insassen schadet und damit auch potentielle neue Opfer erzeugt: Corona.

Warum dies?

Was die Menschen fast annähernd weltweit infolge der Pandemie erfuhren, war der Shutdown des Alltags, das Aussetzen des normalen Lebens. Mit einmal war es nur eingeschränkt oder sogar überhaupt nicht mehr möglich, andere Menschen zu treffen, einzukaufen oder auszugehen, kulturelle und sportliche Veranstaltungen zu besuchen. Viele mussten Wochen bis Monate in ihren eigenen vier Wänden verbringen. Manche konnten dort noch per Homeoffice arbeiten, andere waren in Zwangsurlau b und wussten auf einmal nichts mehr mit ihrer freien Zeit anzufangen, Urlaub anderswo war ja nicht mehr möglich. Viele Selbständige bangten um ihre Zukunft, Existenzängste brachen auf und trieben manche gar in den Suizid. Viel Leid auch dort, wo es aufgrund der Einschränkungen nicht möglich war, kranke oder sterbende Angehörige zu begleiten.

Schon bald begann eine breite Diskussion über die psychischen Folgen des Ausnahmezustands. Bei so manchem entstand Lagerkoller, dazu kamen Langeweile, Ängste und Sinnlosigkeitsgefühle, die vereinzelt sogar zu Suizid führten. Das Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht machte sich breit, die bei manchen zu Aggressionsausbrüchen führten, während sich andere in kruden Theorien verloren. Bald sprach man sogar von einem Trauma, das Menschen durch die Einschränkungen erlitten hätten. Das alles ist für die betroffenen Menschen schlimm, äußerst schlimm.

Nur: Für einen Gefangenen in einer JVA, einem Patienten im Maßregelvollzug ist genau DAS der Alltag – und das nicht über zwei, drei Monate, sondern über Jahre bis mehrere Jahrzehnte! Auch wir sind vom normalen Leben abgeschnitten, kämpfen mit Existenzängsten, quälend durchgrübelten Nächten, unterliegen einem massiven Kontroll- und Selbstwirksamkeitsverlust, ganz zu schweigen, wie oft wir es ohnmächtig aushalten müssen, dass in der Ferne Angehörige und Freunde in Notlagen sind oder gar sterben, ohne dass wir ihnen zur Seite stehen können. Skype, Zoom & Co. sind uns verwehrt, kaum gibt es irgendwo überhaupt Internet. Wir sehen unsere Kinder nicht aufwachsen und unsere Partnerinnen finden andere Menschen, die ihnen ihr Alleinsein abnehmen. Und die merkwürdige und oft rein zweckorientierte Gemeinschaft im Gefängnis und Klinik ersetzt keinen „Social Approach“ zu Menschen unseres sozialen Umfeldes, insofern draußen nach jahre- bis jahrzehntelanger Unterbringung überhaupt noch Menschen vorhanden sind, die mit einem Kontakt halten wollen. Echte Begegnungen finden kaum noch statt. Vereinsamung, seelische Verkümmerung und Suizidgedanken sind wohl kaum einem Gefangenen fremd und müssen jeden Tag aufs Neue verdrängt werden. Dazu sind wir eben nicht mit unseren Lieben auf ein paar Quadratmetern ohne Garten und Balkon eingesperrt, sondern mit Menschen, denen es oft massiv an sozialer und hygienischer Kompetenz fehlt. Und hier gar eine Grundrechtsdiskussion führen zu wollen, wäre natürlich sinnlos. Es ist aber damit genau DIE psychische Konstellation, in der ein Gefangener, ein Patient sich bessern, heilen und sich resozialisieren soll.

Während also für den normalen Menschen unter solchen Bedingungen die Gefahr besteht, massiv psychisch krank zu werden – wie dies ja Corona nun gezeigt hat – wird vom Gefangenen, vom Patienten erwartet, unter diesen Bedingungen zu einem besseren Ich aufzusteigen, destruktives Verhalten abzulegen und schließlich als jahrelang Desozialisierter, finanziell verarmt den Einstieg in die Gesellschaft zu finden, natürlich ohne noch mal ein Delikt zu begehen. Dass dies so kaum gelingen kann, zumal die meisten Insassen weniger psychische Ressourcen als die Normalbevölkerung aufweisen, zeigt nun die Corona-Krise mehr als deutlich. Während man draußen hoffen kann, dass sich nach einigen Monaten wieder eine gewisse Normalität einstellt, verbringen etwa Maßregelvollzugspatienten oder Sicherungsverwahrte über Jahre und Jahrzehnte in der Ungewissheit dieser, wie es der Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor Frankl, einst formuliert hat, ,,provisorischen Daseinshaltung“, ohne dass ein Ende festgelegt ist. Dies dazu oftmals in Institutionen, die mit einem ambivalenten Bezug zur Wahrheit in nichts so manchem Patienten nachstehen, und in denen die Justiz leider nicht immer ihre Aufgabe als Regulativ erfüllt. Und klagt man dies an, riskiert man weitere Jahre der Unterbringung, weitere Jahre der Unsicherheit, ob das Leben überhaupt noch mal in geregelten Bahnen läuft. Aus dem Blickwinkel einer solch totalen Institution kann man nur kopfschüttelnd auf all jene draußen schauen, die nun das Ende der Demokratie wittern.

Es ist also gerade diese kollektive Corona-Krise, die jedermann ersichtlich machen sollte, welche Kraft es kostet, solche Bedingungen einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Kaum aber sind diese geeignet, als besserer Mensch daraus zu erwachsen und eben nicht als hospitalisierter und traumatisierter seelischer Krüppel entlassen zu werden.

Natürlich kann es nicht darum gehen, die Verbrechen der Insassen kleinzureden oder gar zu entschuldigen. Aber wenn man Menschen dahin bringen will, dass durch sie keine weiteren Opfer entstehen, kann es kaum hilfreich sein, dies unter solchen destruktiven Bedingungen zu tun, die weit über das hinaus gehen, worunter die normale Bevölkerung derzeit leidet oder gelitten hat. Im Gegenteil ist dies sogar hochgradig kontraproduktiv für die Insassen, aber auch die Gesellschaft an sich. Auch wenn viele Menschen sich gerade verständlicherweise vor allem um ihre eigene Situation sorgen und mancher dabei den Blick für andere verloren zu haben scheint: Corona bietet aktuell die Möglichkeit, dies nicht nur kognitiv zu verstehen, sondern auch empathisch nachzufühlen.

Ein Gutes hat unsere Situation dennoch: So konnten wir aufgrund unserer z.T. jahrzehntelangen Übung im Bewältigen einer solchen Situation als eine Art „Corona-Coach“ für Freunde und Angehörige draußen wirken, die mit der ungewohnten Lage nicht klar kamen, konnten Tipps und Ratschläge geben, wie man die Leere füllt, der Zeit einen Sinn gibt, den Tag strukturiert. Widersinnig bis hin zur Absurdität war es dabei auch, dass wir Menschen draußen anbieten konnten, Ihnen Carepakete mit Toilettenpapier, Tomatenmark oder Mehl zu schicken, weil die Menschen in den Supermärkten nur noch leere Regale vorfanden und wir zumindest einen kleinen Überschuss hatten. Wenigstens konnten wir so diesen permanenten Ausnahmezustand, der unser Alltag ist, für andere nutzbar machen. Wahrlich verrückte Zeiten.

* Dieser Text wurde aus einer deutschen Justizvollzugsanstalt an die Redaktion einiger Zeitungen versandt. Er wurde aber nirgends veröffentlicht. Der Name des Autors ist dem Strafvollzugsarchiv bekannt.